Zu den Raumzeichnungen von Roland Geissel
Johannes Kögler
Zu den Raumzeichnungen von Roland Geissel
Auf die Frage, was eine Raumzeichnung ist, hat Roland Geissel einmal geantwortet: „Eine Raumzeichnung ist der Innenraum einer Melusine“. Eine kurze Antwort, die sogleich die nächste Frage nach sich zieht – Was ist eine Melusine? – und die zugleich deutlich macht, daß die Raumzeichnungen, die seit dem Jahr 2000 an verschiedenen Orten entstehen, vor dem Hintergrund der älteren, parallel weitergeführten Werkgruppe der „Melusinen“ zu betrachten und zu verstehen sind. Dabei ist das Verhältnis zwischen Melusine und Raumzeichnung komplexer als es die zitierte Aussage zunächst vermuten läßt. Die künstlerischen Antworten auf Fragen nach Raum, nach Plastizität und Volumen, nach Außen und Innen, nach Skulptur und Malerei sind bei den verschiedenen Werkgruppen jeweils eigene und andere, auch wenn sie dieselben Themen betreffen. Eine weitere Ebene kommt durch die Fotoarbeiten hinzu, die die Raumzeichnungen dokumentieren, darüber hinaus aber als eigenständige Arbeiten zu sehen sind. Kurz gesagt: Alle drei Werkgruppen – Melusinen, Raumzeichnungen, Fotoarbeiten – kreisen um dieselben künstlerischen Fragen, machen aber jeweils unterschiedliche Aspekte sichtbar, die nur in dem jeweiligen Medium umzusetzen sind.
Melusinen
Angesichts der einleitend zitierten Aussage ist es angebracht, sich
vor der Betrachtung der Raumzeichnungen den Melusinen zuzuwenden, die
seit 1997 entstehen.#2 „Melusine“ ist der Sammeltitel für
alle Arbeiten einer Werkgruppe, deren Gestaltung immer denselben Grundregeln
folgt, die bei jedem einzelnen Exemplar aber zu einem individuellen
Ergebnis führen. Die Melusinen sind körperhafte Gebilde, die
im Grenzbereich zwischen Malerei und Skulptur einzuordnen sind. Ihr
Körper besteht im Kern aus einem massiven Holzblock von einer annähernden,
jedoch nicht geometrisch regelmäßigen Quaderform. Der Holzkern
ist nicht unmittelbar sichtbar, da er von einer dicken, glatten Wachsschicht
umhüllt ist, die ihrerseits teilweise mit Ölfarbe bemalt ist.
Jede der sichtbaren Flächen einer Melusine wird durch 2 x 2 rechtwinklig
zueinander angeordneter Geraden in neun gleich große Teilflächen
gegliedert. Räumlich gedacht teilen 3 x 2 parallele Ebenen den
Quader in 27 Einheiten. Jeder dieser gedachten Einheiten, von denen
maximal drei Seiten sichtbar sind ist eine Farbigkeit zugeordnet. Nicht
ohne Grund operiert diese Beschreibung der Gestaltungsregeln mit Begriffen
der Geometrie. Das Prinzip, dem die Gestaltung der Melusinen unterliegt,
ist als einfaches Konzept begrifflich exakt und vollständig zu
beschreiben und bedarf zunächst nicht der bildnerischen Umsetzung.
Dennoch macht es nur einen kleinen Teil dessen aus, was die sichtbare
Präsenz der Melusinen am Ende auszeichnet und jede einzelne von
ihnen unverwechselbar macht. Was durch das geometrische Grundmuster
nicht definiert wird, sind die Farbigkeit der Flächen und die Erscheinung
ihrer Materialität. Zudem kommt durch die Auswahl des Ausgangsmaterials,
des Holzblocks, ein Faktor hinzu, der eine Abweichung von der klaren
geometrischen Form des Quaders bewirkt und ein Moment des Zufalls sowie
eine geschichtliche Dimension in die Objekte bringt. Es handelt sich
nämlich nicht um exakt geschnittene Holzquader, sondern um Abschnitte
von Balken, die einstmals in Dachstühlen oder Fachwerkarchitekturen
verbaut waren und die so im Sinne eines objet trouvé einer zweiten
Verwendung zugeführt werden. Daher besitzen die Holzblöcke
von sich aus eine unregelmäßige Form, die einem Quader nahe
kommt, aber an der einen oder anderen Stelle eben doch von der klaren
geometrischen Form des Quaders abweicht. Dem wird ein rein geometrisches
Teilungsprinzip entgegengestellt. Die Teilflächen bzw. Teilkörper
werden dann durch Farbigkeit und Materialität, die eine Einheit
bilden, definiert. Erst durch die Summe der Gestaltungselemente wird
die sichtbare Präsenz der Melusinen erzeugt. Dabei wird die Strenge
des geometrisch-konstruktiven Prinzips durch die Unregelmäßigkeit
des Holzkörpers sowie die sinnliche Anmutung von Farbe und Material
durchbrochen, ohne daß dadurch ein Widerspruch entsteht. Vielmehr
gelangen die unterschiedlichen Aspekte im jeweiligen Objekt zu einer
überzeugenden Einheit.
Raumzeichnungen
Ist eine Melusine ein kompaktes Objekt, das wir nur von außen aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten können, so stellt sich bei einer Raumzeichnung die Situation in umgekehrter Weise dar: Eine Raumzeichnung ist nur von innen zu betrachten. Dadurch verändert sich die Subjekt-Objekt-Beziehung radikal, da sich der Betrachter nun innerhalb der Arbeit bewegt, sie zwar immer noch als ein Gegenüber wahrnimmt, aber gleichzeitig ein Teil von ihr ist. Grundsätzlich ist unsere Wahrnehmung von Architektur – im allgemeinsten Sinne verstanden – eine andere, als die Wahrnehmung einer Skulptur oder eines Objekts. Architektur wird zuweilen als die „dritte Haut des Menschen“ bezeichnet. Sie gehört zu unserer unmittelbaren Lebenswirklichkeit derart selbstverständlich hinzu, daß wir uns die Bedingungen ihrer Wahrnehmung nur selten bewußt machen. Architektur bezieht sich mit ihrer in der Regel auf rechten Winkeln beruhenden Konstruktion unmittelbar auf die Grundbedingungen unserer Existenz: Selbst eine Vertikale bildend, die aus der Schwerkraft resultiert, verorten und bewegen wir uns auf der Fläche oder im Raum wie in einem imaginären Koordinatensystem – immer an den Boden gebunden. Befinden wir uns in Innenräumen, so bildet der Fußboden die Fläche, auf der wir uns bewegen, die Wände die Begrenzungen dieses Bewegungsraumes und die Decke den oberen Abschluß, der weder zu berühren noch zu betreten ist. Dieser unterschiedlichen Grundfunktion bzw. -bedingung von Boden, Wand und Decke entspricht in aller Regel eine unterschiedliche Gestaltung dieser Raumbegrenzungen. Bereits an dieser Stelle vermitteln die Raumzeichnungen von Roland Geissel eine von der Alltagserfahrung gänzlich abweichende Wahrnehmung, indem alle sechs Flächen eines Innenraums in gleicher Weise in die Gestaltung einbezogen werden. Dabei kommen bei den Raumzeichnungen und -malereien die selben Gestaltungsprinzipien zur Anwendung wie bei den Melusinen. Der Raum wird einer Gliederung bzw. Gestaltung unterworfen, die rein konstruktiv bedingt ist und der eine Auffassung zugrunde liegt, die in der konkreten Kunst wurzelt.
Am Beginn der Auseinandersetzung mit einem konkreten Raum, für den Roland Geissel eine Raumzeichnung plant, stehen die vor Ort gewonnene eigene Wahrnehmung des Raumes sowie die Dokumentation des Raumes mit Hilfe der Fotografie. Auf der Grundlage der angefertigten Fotos werden dann ganze Serien von Entwürfen hergestellt, die verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten durchspielen. Am Beginn der Ausführung vor Ort steht dann die genaue Vermessung des Raumes und die Ausführung der Raumzeichnung im engeren Sinne, d.h. das Anlegen der insgesamt 6 Bleistiftlinien, von denen jede Linie über 4 der 6 Flächen des Raumes geht und von denen je 2 die Flächen in den 3 Dimensionen des Raumes in jeweils drei gleiche Teile teilen. In der Summe wird jede Fläche so in 3 x 3 = 9 Teile geteilt, der Raum (imaginär) insgesamt in 3 x 3 x 3 = 27 Teile. Das Anlegen dieser eigentlichen Raumzeichnung ist der entscheidende erste Schritt der Ausführung der Arbeit. Er setzt das bei den Melusinen angewandte Teilungsprinzip in der spezifischen Raumsituation um. Ebenso wichtig für die spätere Wahrnehmung des Raumes ist jedoch der zweite Schritt: die Ausführung der Malerei. Die Begrenzung der zu bemalenden Flächen ist durch die Zeichnung festgelegt. Als weitere Gesetzmäßigkeit gilt – ebenso wie bei den Melusinen –, daß jedem der 26 an eine, zwei oder drei Flächen angrenzendem Raumkompartimente genau eine Farbe zugeordnet wird. Das Anlegen der ersten Farbe geschieht auf Grundlage der Entwurfsskizzen, die einen Pool an Möglichkeiten bilden. Wie viele Farben am Ende verwendet werden und ob eine der Skizzen vollständig zur Umsetzung kommt, ist zu diesem Zeitpunkt noch offen. Diese Entscheidungen werden erst im Verlauf des Arbeitsprozesses getroffen – intuitiv, im Dialog mit dem Raum.
Die ausgeführte Raumzeichnung ermöglicht ganz unterschiedliche Wahrnehmungen und Erfahrungen: als erstes die frappierende Erfahrung, einen Raum zu betreten, in dem der Fußboden ohne Unterschied in die Gesamtgestaltung einbezogen ist. Beim Durchschreiten bietet der Raum je nach Standort und Blickrichtung nun ganz unterschiedliche Zonen, in denen das Raumempfinden jeweils ein anderes ist. Zu den fast physisch wahrgenommenen Empfindungen der verschiedenen Orte innerhalb des Raumes kommen die verschiedenen Wahrnehmungen des Auges hinzu: Von jedem Punkt aus, nach jeder Richtung gesehen bilden die Anordnungen der Flächen ein anderes Bild, eine andere Formation, die nur in einer zeitlichen Abfolge als Gesamtes wahrgenommen werden können. Als weitere Beobachtung kommt hinzu, daß durch die Raumzeichnung Besonderheiten und Unregelmäßigkeiten eines Raumes stärker hervortreten.
Fotoarbeiten
Da die Raumzeichnungen ortsgebunden und in der Regel temporär sind, liegt der Gedanke der fotografischen Dokumentation nahe. Die Fotos, die Roland Geissel mit einer Großbildkamera auf Filmmaterial im Format 4 x 5 Inch anfertigt, gehen aber über die rein dokumentarische Funktion hinaus und besitzen selbst Werkcharakter. Roland Geissel wählt für die Aufnahmen festgelegte Kamerastandorte aus, wodurch eine gewisse Objektivierung erreicht wird: einerseits Frontalansichten, bei denen die Filmebene parallel zu einer der Stirnwände und der Fluchtpunkt genau im Zentrum der Wand liegt, andererseits Diagonalperspektiven von den vier Ecken des Raumes aus. Der Bildausschnitt wird beim fotografieren festgelegt. Ein späterer Beschnitt findet nicht statt, ebenso wenig werden andere Manipulationen am Bild vorgenommen.
Im Ergebnis leisten die Fotos nicht nur die tatsächliche perspektivische Übertragung des Raumes auf die zweidimensionale Ebene des Films, vielmehr bewirken sie auch eine veränderte Wahrnehmung. Teils tritt die räumliche Wahrnehmung insgesamt zugunsten der Wahrnehmung flächiger, zeichenhafter Formationen in den Hintergrund, teils entstehen optische Effekte, die eine andere als die wirkliche Räumlichkeit suggerieren: Es entstehen neue, irreale Räume. Damit bilden die Fotoarbeiten wiederum eine eigene Wirklichkeit, die auch unabhängig von dem Bezug bzw. der Erinnerung an die jeweilige Raumzeichnung Gültigkeit hat. Gleichwohl verbleiben die Fotoarbeiten im Spannungsfeld zwischen dokumentarisch-verweisender und autonomer Arbeit. Dies ist durchaus beabsichtigt, da für Roland Geissel die Verbindungen zwischen den Werkgruppen – Melusinen, Raumzeichnungen, Fotoarbeiten – von Interesse sind und in Ausstellungssituationen ausdrücklich thematisiert werden.
Zusammenfassung und Schlußfolgerungen
Die Raumzeichnungen vereinnahmen den Betrachter stärker als andere, selbst großformatige Kunstwerke, da sie nicht nur ein Gegenüber bilden, sondern den Betrachter von allen Seiten umgeben, ihn ganz in sich aufnehmen. Entscheidend und spezifisch für die Raumzeichnungen Roland Geissels sind folgende Aspekte:
Die Raumzeichnungen täuschen nichts vor, sie erzeugen keine Illusion, sondern sind im Sinne der konkreten Kunst „nur“ das, was der Betrachter vor Augen hat.
Die Raumzeichnungen verändern einen ganz bestimmten Ort bzw. Raum für eine bestimmte Zeit. Dabei ist kein Raum anonym oder austauschbar, sondern besitzt vielmehr spezifische Merkmale (Größe, Proportion, Türen, Fenster, sonstige Ausstattung) und eine spezifische Geschichte – ein vorher und nachher. Eine Raumzeichnung verändert die Wahrnehmung des jeweiligen Raumes sowie unsere Selbstwahrnehmung in dem Raum und – vielleicht – als nachhaltige Folge unsere Wahrnehmung von Räumen überhaupt.
Die Individualität eines jeden Raumes wird paradoxerweise auch dadurch betont, daß das konstruktive Teilungsprinzip, das auf jeden Raum gleichermaßen angewendet wird, immer zu einem anderen Ergebnis führt und Besonderheiten eines Raumes um so deutlicher zutage treten läßt. Gänzlich individuell und keinem vorformulierten Prinzip unterworfen ist die Farbigkeit einer jeden Raumzeichnung.
Entscheidend in seiner Radikalität und Konsequenz ist bei der Konzeption und Umsetzung der Raumzeichnungen die Einbeziehung des Fußbodens: Erst dadurch wird letztlich und vollständig der jeweilige Raum vom Gegenstand der Benutzung – selbst ein Ausstellungsraum wird durch eben diese Nutzung erst definiert – zum Kunstraum transformiert.
Am Ende kommen wir wieder zu dem einleitend zitierten Satz zurück: „Eine Raumzeichnung ist der Innenraum einer Melusine.“ Was wir einmal als Volumen von außen wahrnehmen, erleben wir nach dem Eintreten in eine Raumzeichnung plötzlich von innen. Die Raumzeichnung ermöglicht es uns also tatsächlich, eine Skulptur zu betreten und zu begehen. Blicken wir, wenn wir eine Melusine betrachten, von außen auf ein Objekt, das deutlich kleiner ist als wir selbst, so werden wir beim betreten einer Raumzeichnung Teil einer Gesamtheit, die deutlich größer ist, als wir. Die Subjekt-Objekt-Beziehung verändert sich radikal und mit ihr unsere Selbstwahrnehmung im Verhältnis zum Kunstwerk.