Kasseler Kunstverein - Katalogtext

Zu Roland Geissels Melusinen
Dr. Dirk Koppelberg

"Das, was das Bild zeigen soll, ist vorher im Unklaren.
Aber es ist nicht unklar als Bild."

Johannes Geccelli

Auf den ersten Blick sind es eigentümlich geheimnisvoll anmutende Gebilde von subtiler poetischer Wirkung, der man sich kaum mehr entziehen kann, wenn man einmal in ihren Bann geraten ist. Die Rede ist von einer Werkgruppe des Malers Roland Geissel, deren einzelne Exemplare er alle 'Melusine' nennt. Was ist eine Melusine?

Ihr Körper besteht jeweils aus einem massiven Holzquader, dessen Kanten teilweise leicht irregulär verlaufen, was dem Artefaktcharakter der Gebilde zuweilen eine beinahe naturhafte, auf jeden Fall aber eine geschichtliche Dimension verleiht. Die Maße einer Serie von Melusinen, die mir besonders gefällt, betragen 21 cm in der Höhe, 13,5 cm in der Breite und 17 cm in der Tiefe (1). Die Fläche der beiden Seiten ist also größer als die Vorderfront, was entscheidende Konsequenzen für die Betrachtung nach sich zieht. Auch Unter- und Oberseite einer Melusine sind malerisch bearbeitet. Alle Seiten bestehen - zumindest virtuell - aus drei mal drei Rechtecken, auch wenn nicht jedes Rechteck von den angrenzenden durch eine jeweils spezifische Farbgebung deutlich abgesetzt wird (2). In einem ersten Arbeitsgang werden einige Rechtecke auf dem Holzquader mit einer ausgesuchten Ölfarbe bemalt. In einem zweiten Arbeitsgang wird sowohl auf die bemalten wie auch auf die unbemalten Holzflächen Wachs aufgetragen. Und in einem dritten Arbeitsgang wird schließlich noch einmal auf einige miteinander verbundene Wachsrechtecke eine zweite Ölfarbe aufgelegt. Die visuelle Konsequenz dieses Vorgehens besteht darin, daß jede Melusine jeweils aus drei verschiedenen Farben besteht, denen drei unterschiedliche Bildtiefen in einem komplexen Zusammenspiel von Transparenz und Opazität entsprechen. Der Betrachter, wo immer er auch steht, nimmt stets drei Seiten einer dreidimensionalen Melusine wahr, wobei sein jeweiliger visueller Eindruck maßgeblich davon abhängt, welche Kombination welcher drei Seiten von ihm augenblicklich in näheren Augenschein genommen wird.

Eine Melusine ist nun aber keineswegs so selbstbezogen und unzugänglich wie sie dem Leser nach dieser betont nüchternen und sachlichen Beschreibung, oder aber auch einem oberflächlichen Betrachter nach nur kurzer Bekanntschaft mit ihr erscheinen mag. Vielmehr besitzt jede von ihnen eine ihr eigene Ausstrahlung, die den visuell Empfänglichen anspricht, ohne ihn so schnell zu verführen, daß er sich schon bald in dem Glauben wiegen könnte, seine Eroberung nun hinreichend zu kennen. Melusinen fordern zwar unsere Annäherung heraus, doch beharren sie zu-gleich auf gebührlicher Distanz. Mehr und mehr gewinnt der Betrachter den Eindruck, daß jede Melusine ein Geheimnis in sich birgt, was sie uns, wenn überhaupt, sicherlich nicht vorschnell preiszugeben gewillt ist. Ist es zu lüften, wenn wir sie immer wieder anschauen, nicht müde werden, uns intensiv mit ihr zu beschäftigen, sie stets auf neue betrachten und ihr unsere ungeteilte Aufmerksamkeit zuwenden? Je nach Standpunkt und Blickwinkel nehmen wir bei unserer allmählichen Annäherung ganz unterschiedliche Seiten einer Melusine wahr. Und dies ist bei ihr - wie wir gesehen haben - wortwörtlich zu verstehen! Je näher man einer Melusine kommt, desto mehr wird man von ihr in ein komplexes Farb- und Formspiel eingewoben, das stets auf neue herausfordert, anzieht und Lust macht. Melusinen fordern eine haptische Kontaktaufnahme geradezu heraus und verbieten sie zugleich. Ihre farbwächserne Oberfläche, die ganz unterschiedliche Strukturen ebenso durchscheinen läßt wie sie sie tief in ihrem Innern zu verbergen scheint, will partout nicht angefaßt, sondern immer wieder nur angeschaut werden. Durch dieses Schauen entsteht nach und nach beinahe eine Art visueller Gewißheit, daß Farbe und Wachs nicht auf einem Holzkörper aufruhen, sondern daß eine Melusine durch die für sie charakteristischen teils diaphanen, teils opaken Farbquader allererst konstituiert, ja fast möchte ich sagen, ins Leben gerufen wird.(3)

Als ich darüber nachdachte, zu welchem wichtigen Maler der Gegenwart ich Geissels Melusinen am ehesten in eine erhellende Beziehung setzen könnte, fiel mir spontan Sean Scully ein. Dabei habe ich insbesondere seine neuen Kastenbilder vor Augen, die in Deutschland leider bislang kaum zu sehen waren. (4) Was Scullys und Geissels Malerei bei allen offensichtlichen Unterschieden verbindet, ist nicht nur ihre beeindruckende physische Präsenz und ihre verführerische haptische Qualität, es ist darüberhinaus vor allem das spezifische Phänomen eines eigentümlichen inneren Lichts, das Scully im Gespräch mit Hans-Michael Herzog recht genau und anschaulich beschrieben hat: "... Robert Hughes wrote something very interesting about the light in my painting, which also relates to this issue of colour. He said it was like the light in stone - semi-precious stone. I find that very beautiful. And that is the single reason that I called one of my paintings 'Stone Light'... It is not the easily accessible, the hedonistic light of the Mediterranean. It's a light that has in it a great nobility, also a sense of permanence and that's really one of the key characteristics of what I do. It's the desire to make a light that has permanence... When you look at a semi-precious stone, you know that it has light in it. It's as if the light is held by something that's very old. And somehow, there's a miraculous relationship between the solidity of the stone and the purely sensory, fugitive na-ture of the light; and they come together to make this peculiar relationship." (5) Die besondere Beziehung, von der Scully hier spricht, finde ich auf ganz spezifische Art und Weise auch in den schönsten Melusinen realisiert. Überhaupt arbeitet Geissel bei ihnen mit einer Vielzahl polarer Gegensätze und den für ihn charakteristischen Gestaltungsprinzipien zu ihrer Überwindung: Melusinen sind optisch und haptisch, sie sind hart und weich, sie sind geometrisch und atmosphärisch, sie sind naturhaft und kalkuliert, sie haben eine Geschichte und sind ganz gegenwärtig, sie sind massiv und zerbrechlich, sie sind klar und stecken dennoch voller Geheimnisse.

In seinen prägnanten und bis heute bedenkenswerten Thesen "Zum allgemeinen Begriff von Kunst" schreibt Paul Valéry 1935: "Das Gefühl des Hungers hört auf, wenn der Mensch satt ist, und die Bilder, die dieses Bedürfnis veranschaulichen, entschwinden. Ganz anders ist es im Bereich der ausschließlichen Sensibilität...: die Befriedigung erneuert das Verlangen; die Antwort läßt die Frage aufs neue entstehen; der Besitz erzeugt wachsende Lust auf das, was man bereits besitzt mit einem Wort: der Sinneseindruck steigert die Erwartung seines Auftretens und reproduziert sie, ohne daß irgendein klar erkennbarer Endpunkt, irgend-eine deutliche Grenze, irgendeine alles entscheidende Handlung diesen Effekt der wechselseitigen Reizung unmittelbar aufheben könnte. Ein System sinnlich wahrnehmbarer Dinge zu organisieren, das diese Eigenschaft besitzt: darin liegt der Kern des Problems der Kunst." (6) Roland Geissels Melusinen sind bis zu diesem Kern vorgedrungen. Und mehr noch - sie stellen eine gelungene Art seiner Lösung dar, die eine sehr alte Tradition der Malerei aufgreift, sie eingehend studiert und bis zu einem Punkt bearbeitet und entwickelt, an dem neue visuelle Einsichten und Erfahrungen für diejenigen möglich werden, die sich bei ihrer Wahrnehmung nicht auf vorgefundene und fragwürdig gewordene Sehkonventionen, sondern auf entdeckungsfreudige und wache Augen verlassen. (7)

(1) Bis zur Fertigstellung dieses Essays habe ich vier unterschiedliche Serien von Melusinen kennengelernt. Wie verschieden ihre Maße auch jeweils sind, so zeichnen sie sich doch alle dadurch aus, daß ihre Tiefe größer als ihre Breite ist. Dabei erinnern die 1998 entstandenen Arbeiten in der Form 30 cm x 8 cm x 21 cm nicht nur von ihrer Formgebung her an schmale alte Folianten.
(2) Eine Serie bildet hier eine Ausnahme; sie setzt sich aus fünf mal fünf Rechtecken zusammen.
(3) Ich kann hier nicht auf die äußerst reichhaltige und folgenreiche literarische Rezeption einer Geschlechtersage des 13. oder 14. Jahrhunderts eingehen, wonach Melusine der Name einer Nixe oder Meerfee ist, die die Ahnfrau des seit 967 in Poitou nachgewiesenen gräflichen Hauses Lusignan (lat. Lusinia) gewesen sein soll. In einem Gespräch mit Roland Geissel in dessen Atelier am 16.3. 1999 hat dieser mir versichert, daß ein allzu enger Interpretationanschluß seiner Werke an die Kernfabel der Melusinengeschichte nicht in seinem Sinne läge, gewisse Assoziationen aber nicht auszuschließen sind.
(4) Für eine gute Beschreibung und Interpretation dieser Kastenbilder vgl. Danto, Arthur C., 1996, "Zwischen den Linien: Sean Scully auf Papier", in: Semff, Michael (ed.), Sean Scully - Works on Paper 1975-1996, München. S. 15 f.
(5) Scully, Sean, 1995, "The Beauty of the Real", in: Herzog, Hans-Michael (Hg.), Sean Scully - The Catherine Paintings, Ostfildern, S. 82. (Ich gebe hier das englische Original an, da die deut-sche Übersetzung in dem Katalog fehlerhaft ist; D.K.)
(6) Valéry, Paul, 1935, "Zum allgemeinen Begriff von Kunst", In: Werke, Band 6, Zur Ästhetik und Philosophie der Künste, hg. von Jürgen Schmidt-Radefeld, Ffm. 1995, S. 209.
(7) In seiner "Einführung in die Methode des Leonardo da Vinci" von 1894 schreibt Valéry zu diesem grundlegenden Punkt: "Die meisten Leute nehmen viel häufiger mit dem Verstand als mit den Augen wahr. Anstelle farbiger Räume nehmen sie Begriffe in sich auf. Eine kubische weißliche Form, die hochsteht und mit Reflexen von Glasscheiben durchschossen ist, nennen sie mir nichts, dir nichts ein Haus, was für sie soviel heißt wie: Das Haus! ... Wenn sie den Standort wechseln, entgeht ihnen die Bewegung der Fensterreihen, die Verschiebung der Flächen, die den sinnlichen Eindruck ständig verändern; denn der Begriff ändert sich nicht. Sie nehmen eher wie nach einem Wörterbuch als aufgrund ihrer Netzhaut wahr, sie bringen die einzelnen Gegenstände so ungeschickt zusammen, sind sich so im unklaren über die Freuden und Leiden des Anschauens, daß sie die lohnenden Ansichtspunkte erfunden haben. Von allem übrigen wissen sie nichts..." In: Leonardo da Vinci, Ffm., 1998, 21f.

© Dr. Dirk Koppelberg

top